Nur die Oberflächlichen kennen sich selbst. Oscar Wilde

Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf zu leben: dazu tut not tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, and Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben!Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe. Friedrich Nietzsche

Eine philosophische Annäherung an die Tiefen des Oberflächlichen für tauchende Bergsteiger

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Die Persönlichkeit der Dinge 

Unsere aktuelle geschichtliche Epoche ist zweifellos das Zeitalter der Dinge. Davon können uns Besuche in einem  Warenhaus oder Gänge durch Duty Free Regionen eines großen Flughafens immer wieder eindrucksvoll überzeugen. Die allgegenwärtige Welt der Dinge ist als die Welt in der wir leben gewissermaßen unsere neue

Natur. Die uns dazu nötigt sich in ihr zurechtzufinden. Denn eben so wie die álte Natur die Lebensbedingungen unserer Vorfahren prägte, ist es heute die Welt der Dinge, die unablässig die Komplexität des modernen Daseins hervorbringt. Jedoch nicht die Dinge selbst sind es die zu denken geben.

Außer bei ganz trivialen Dingen, wie Spülmittel oder Toilettenpapier, stehen nämlich beim Erwerb und der Bewertung von Waren und Dienstleistungen ihre persönlichen Eigenschaften, das heißt, die jeweilige Marke, vor allem aber das soziale Image der Marke im Vordergrund des Interesses. Mit dem Image einer Sache ist die Gesamtheit von Charaktereigenschaften und symbolischen Bedeutung zu verstehen die eine Marke “ausstrahlt”, und im Bewußtsein ein “Bild” vom jeweiligen Produkt entstehen lässt.

Marken, egal ob für Gastronomiebetriebe, Autos, Sonnenbrillen, Zahnpasta, oder Fußballvereine präsentieren sich als Überzeugungsleistungen, bzw. Leistungsversprechen, die inmitten aller vorhandenen Dinge wie hilfreiche Wegweiser zur persönlichen Entscheidungsfindung verhelfen wollen.

Sich bewusst für diese oder jene Sache zu entscheiden hat mittlerweile zu einem echten Fort-Schritt von herkömmlichen Formen menschlicher Identität geführt. Verwebt sich doch das Image von Waren und Dienstleistungen immer mehr mit unserer Persönlichkeit. Immerhin definieren wir uns bewusst und unbewusst mit jenen Dingen, die wir als zu uns zugehörig empfinden. Andrerseits werden wir von der sozialen Umgebung, ob wir es wollen oder nicht, im Hinblick auf unsere Dinge definiert. Und wenn wir sehen, dass andere sehen und verstehen welche Dinge wir haben, können wir, so grotesk das auch sein mag, die Genugtuung empfinden als Mensch verstanden worden zu sein.

An-Dingung an die Welt der Dinge

Menschliche Kommunikation wird damit zum gegenseitigen Herantasten an ästhetische, theoretische, und moralische Aspekte die mit Dingen in Verbindung stehen. Vom Moment der Geburt an beginnt heute eine Lebenspraxis, die sich nach und nach auf die Dinge und ihre Bedeutungen erstreckt.

Es handelt sich dabei um eine sowohl individuelle als auch kollektive An-Dingung an die Welt der Dinge. Die Wortschöpfung tönt zugegeben heideggerisch, sie ist es aber nicht.

An-dingendes Aufgehen in der Persönlichkeit von Dingen, die “Einfühlung” in einen FERRARI, einer ROLEX, eines APPLE, einer HARLEY usw. hat eine neue Art von Identität hervorgebracht. Da es heute

überall auf der Welt die gleichen Dinge zu kaufen gibt, die auch überall von denselben sozialen Bedeutungsschichten auratisch umgeben sind, liegt es in der Natur eben dieser Dinge eine globale Identität heranzubilden. Die sich nicht mehr wie früher durch bestimmte Charaktereigenschaften, irgendwelchen Innerlichkeiten oder Bildung, durch Wertungen oder Weltanschauungen vermittelt. Wohl aber eine Identität, die sich einzig und allein über die Persönlichkeit der Dinge vermittelt.

Natürlich ist das vom Standpunkt “höherer” Erwartungen an Menschen eine Horrorvision. Immerhin leben wir mit einem Menschenbild, das von der Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Existenz des Menschen geprägt ist. Wobei seit Augustinus eine wertende Hierarchie besteht, derzufolge im “inneren Menschen” die Wahrheit wohnt. (De vera religione 390) Allerdings verblasst diese Wertung im Hinblick auf die wahre Tiefe des Oberflächlichen. Was aber ist oberflächlich?

Fort-Schritt von geistigen Tiefen und gleichzeitige Hinwendung zur Tiefe des Oberflächlichen. Vom Daseinsdesign eines neuen Menschseins 

Oberfächlich ist zunächst einmal das, was sich auf der Oberfläche eine Sache befindet. Die Fettaugen beispielsweise, die auf der Oberfläche eine Suppe treiben. Weitaus häufiger wird das Eigenschaftswort “oberflächlich” jedoch in einer moralisch-wertenden Bedeutung benutzt. Und zwar im Hinblick auf Dinge, Sachverhalte oder Verhaltensweisen, die in wertender Hinsicht “Tiefe” vermissen lassen, und denen dann von Anfang an Eigenschaften des Belanglosen anhaften. So gesehen könnte man versucht sein als oberflächlich etwa jene Gespräche zu

bezeichnen, die frisch Verliebte beim Essen miteinander führen. Oberflächlich wäre demnach auch die zerstreute Leküre großer Romane, oder die nur flüchtige Betrachtung hervorragender

Meisterwerke der Kunst in Museen. Es gibt von der Warte intelektueller Gründlichkeit aus gesehen oberflächliche Betrachter, Leser, Zuhörer und Denker, denen alles was eine gewisse Schwierigkeit der Durchdringung abverlangt aus Gründen verschiedener Art und Bedeutung für immer unergründlich bleiben wird. Es scheint allerdings auch “oberflächliche Menschen” zu geben.

Das sind Menschen denen man es schon von weitem anzusehen glaubt, dass mit Kant’s “Kritik der Urteilskraft” nichts anfangen können. Und denen mit einem Unterton von Resignation innere Qualitäten abgesprochen werden. Dass bei solchen Menschen tatsächlich etwas wesentliches fehlt gilt gemeinhin als gesichert. Allerdings nur bei einer sehr oberflächlichen Betrachtung. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich ein ganz anderes Bild, das bei einem kurzen Ausflug in menschliche Frühzeiten hervorzutreten beginnt.

Unsere frühen Vorfahren mussten sich auf ihre unmittelbaren Wahrnehmungen verlassen können. Da war das Tier, dem, um nicht zu verhungern, in Sekundenschnelle  etwas an den Kopf geschleudert werden musste. Oder der über Leben und Tod entscheidende kurze Anblick von Feinden, die angriffslustig im Unterholz lauerten. Die Augen jederzeit offenzuhalten war für unsere frühen Vorfahren ein Überlebensmittel. Sobald aber der alltägliche Überlebenskampf durch Ackerbau und Viehzucht etwas abgemildert wurde, tat sich unseren Vorfahren eine neue Welt auf.

Die sie, worauf gar nicht genug hingewiesen werden kann, mit geschlossenen Augen entdeckten. Und indem sie mit geschlossenen Augen dasaßen, und in sich hinabsteigend sich in allerlei Vermutungen und Vorstellungen hineinsteigerten, gelangten sie zur Weisheit der geschlossenen Augen. Wobei unsere Vorfahren, die “Tiefen” des menschlichen Daseins entdeckend, “tief” wurden.

So verschieden die Lehren aller frühren Religionsstifter, Mystiker, und vorphilosophischen Denker auch sind, ihre grundlegenden Ansichten gleichen sich darin der sichtbaren Wirklichkeit gründlich zu misstrauen. Womit ein Strukturwandel der Realität eintrat. Wurde doch die “wahre” Realität aus der Welt des Sichtbaren, des hier und jetzt augenscheinlich Erfahrbaren, nach und nach in die Welt unsichtbarer Erkenntnisse verlagert. Im Zustand der Hinwendung, Versenkung, Anbetung, Verzückung und Ekstase wurden dann in beglückt gefundenen Tiefen Schatzkammern absoluter Wahrheiten entdeckt.

Als einer der merkwürdigsten Höhepunkte für diese Tauchgänge wäre im Hinblick auf unseren Kulturkreis an die Lehre des Jesus zu erinnern. Die mit der konkreten Realität des menschlichen Lebens wie Wohnung, Kleidung, Hygiene, Nahrung, Handel und dergleichen nichts zu tun hat. Und tatsächlich ist ja im Christentum, wie auch in anderen Religionen nicht wesentlich was mit offenen Augen gesehen, sondern woran

mit geschlossenen Augen geglaubt wird. Vordergründig an die menschliche Realität im Hier und Jetzt als einer Art von vergänglicher Zwischenstation mit Symbolgehalt.

Zur Auffassung des Lebens als Durchreise zu einem höheren Ziel passt die Überzeugung allem “Äußeren” klare Absagen erteilen zu müssen. Wenn die wahre Welt und ihre Geheimnisse “da drinnen” sind, und alles Hier und Jetzt “da draußen” nur eine vergängliche Illusion ist, dann ist es nicht nur nebensächlich, sondern auch völlig belanglos wie ich aussehe. Und je “tiefer” ich bin, desto weniger brauche ich mich um meine äußere Erscheinung zu kümmern. Im Gegenteil, man soll mir meine innere Tiefe ja auch ruhig ansehen dürfen. Und eben das erreiche ich durch eine möglichst öffentlichkeitswirksame Steigerung meiner äußerlichen Vernachlässigung.

Wenn ich so wie Diogenes für alle sichtbar in einer Tonne hause, im Wald verborgen mit den Tieren lebe, ganz in mich gekehrt auf einem Nagelbrett sitze, oder auf öffentlichen Plätzen die absonderlichsten körperlichen Verrenkungen betreibe, zeige ich allen wie tief ich bin.

Wobei der Blick auch auf jenes typische Erscheinungsbild fällt, das nicht ohne Stolz von Angehörigen betont “geistiger” Berufe inszeniert wird. Stets will dabei eine demonstrativ selbstgefällige Gleichgültigkeit hinsichtlich des Äußeren als Markenzeichen für innere Tiefe verstanden sein.

Und wenn “tiefe” Menschen darüber hinaus sehr häufig vor Bücherregalen abgebildet sind dann doch nur deshalb um zu zeigen was in ihnen alles “drin” ist. Das Bewußtsein über innere Reichtümer zu verfügen ist mit Inszenierungen äußerer Bescheidenheit verbunden. Gleichzeitig wird dabei alles was an einer Person durch ästhetische Ausstrahlungskraft “dran” ist (Popstar ) als Zeichen von innerer Armut gedeutet.

Wobei nicht vergessen werden darf, dass auch vor Gott nichts zählt was an einem “dran” ist. Schließlich müssen im Vergleich zur Herrlichkeit Gottes menschliche Äußerlichkeiten als verwerfliche Respektlosigkeit erscheinen. Woraus sich das Recht Gottes ableitet mit aller Entschiedenheit gegen abschweifendes Blendwerk der Menschen zu zürnen. Die Beweggründe des Herrn entsprechen dabei einem Bewußtseinswandel. Sobald aus inneren Tiefen heraus hohe und höchste Erkenntnisse gewonnen werden, entsteht der strafende Blick auf Hochmut. Auf die verwerfliche Hybris, als ein der Tiefe diametral entgegengesetztes Verhalten. Wofür die öffentliche Meinung bezeichnend ist. Wer den Kopf zu hoch trägt, muss bekanntlich ins Bodenlose.fallen.

In den Tiefen des Oberflächlichen die große Liebe zu den Dingen finden. Aussichten zum höchsten Glück 

Aber derartigen Wertungen ungeachtet hat die heutige Welt weltweit verbreiteter Dinge zu einer Erlösung vom dunklen Ernst der Tiefe geführt. Die einfühlende Hinwendung zu den Dingen, der vermeintlich oberflächliche Kult der mit ihnen betrieben wird, knüpft an die vorphilosophischen und vorreligiösen Erkenntnisse der offenen Augen an. Und eben darin liegt die Tiefe von dem was leichtfertig als oberflächlich abgetan wird. Die weltweite Welt der Dinge bedingt einen anthropologischen Entwicklungsschritt zu einer neuen Tiefe; zur Tiefe des menschlich Oberflächlichen. Bildet doch die Tiefe dieser Oberflächlichkeit ein neues  Menschsein heran. Eine globale Identität, die ihr Glück darin findet sich selbst in der Welt der Dinge zu sehen, statt dem Unglück anheimzufallen auf der Selbstsuche zu sein.

Bezeichnend für diese Entwicklung ist ein unübersehbarer Zusammenhang zwischen der zunehmenden Flüchtigkeit klassischer Zweierbeziehungen und der altruistischen Einfühlung in die Persönlichkeit von Dingen. Es ist ja heute nicht mehr außergewöhnlich wenn Autos, Handys, Uhren, oder Parfüms tief empfundene Zuneigungen, sowie Gefühle von Freundschaft und Liebe empfangen. Wenn aber unsere emotionalen Energien sich mehr und mehr auf die Welt der Dinge beziehen, dann beziehen sich unsere Gefühle jedoch nicht auf die Dinge als solche, sondern auf jene menschlichen Gefühle und Eigenschaften, die in den Dingen zum Ausdruck kommen. So gesehen erweist sich die “Einsfühlung” mit den Dingen, die Liebe zu ihnen, als die höchste Form der Liebe.