Nichts ist, was es zu sein vorgibt. Alles ist schon im Augenblick seines Erscheinens ein Zitat. Roberto Calasso

Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig?…die scheinbare vielleicht? Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft.

Friedrich Nietzsche

 

Vorwärts, Kameraden, wir müssen zurück. Das ist der anschauliche Titel eines deutschen Kriegsromans aus den 50er Jahren. Tatsächlich muss es beim Rückzug vor dem Feind gleichzeitig zurück und vorwärts gehen. Und zwar so schnell wie möglich! Muss doch aus naheliegenden Gründen der unerbittlich nachsetzende Feind auf Abstand gehalten werden. Was selbstverständlich mit ursprünglichen Kriegszielen nicht vereinbar ist und eine Niederlage bedeuted. Um sie sich nicht eingestehen

zu müssen, und zwecks Aufrechterhaltung der Kampfmoral, griff im 2. Weltkrieg die deutsche Heeresleitung in ihrer militärischen Verlegenheit zu einem linguistischen Trick. Indem sie den erzwungenen Rückzug der Truppen als taktische  Frontverkürzung  beschönigte.

Heute muss es bei einem Rückzug ganz anderer Art und Bedeutung ebenfalls schnellstens vorwärts gehen. Der Feind der heute, und nicht erst seit heute zum vorwärtsstrebenden Rückzug nötigt ist das Alter. Mit dem eine hedonistische Wohlstandsgesellschaft seit längerem schon auf Kriegsfuß steht. Zwar sind wir im Krieg gegen Alter, Sterben und Tod seit jeher schon geborene Verlierer. Jedoch wurden Methoden und Maßnahmen ersonnen, die diesen unerbittlich nachsetzenden Feind auf Abstand halten. Diesem Ziel ist eine riesige Industrie mit Milliardenumsätzen verpflichtet. Eine kosmetisch- medizinische Kriegswirtschaft. Die vorwärtsbewegende Frontverkürzungen vom

Unausweichlichen zurück zur Jugendlichkeit bewerkstelligt. Worauf sie finanzkräftige, und somit kampfstarke Truppen, im militärischen Befehlston einschwört.Werden Sie jünger! Zaubern Sie sich jung! Drehen Sie die biologische Uhr zurück! 60 ist das neue 40! Kämpfen Sie gegen Ihr Alter!

Glücklich ohne Falten im Retro Trend

Tatsächlich wird heute erwartet, dass man so um die 50 herum mindestens zwanzig Jahre jünger aussieht. Infragekommende Rückzugsgefechte sind hauptsächlich auf die Beseitigung von Spuren ausgerichtet, die im Verlauf der Zeit durch aufreibende Feindberührung entstanden sind. Es sind dies Falten. Und ein entschlossenes weg mit Falten! wird deshalb zur Stärkung der Kampfmoral als Losung ausgegeben. Die den Rückzug ins große Glück; zum unentwegt angepriesenen Heilsgebilde jugendlich faltenloser Haut antreibt. Ähnlich wie Soldaten, die nach Frontverkürzungen glücklich waren am Leben geblieben zu sein, ist heute für siegreich vor Spiegeln stehenden Kämpfern ihre glatte Gesichtshaut ein Synonym für Lebensglück.

Galten Gesichtsfalten früher einmal als ehrbare Zeichen erbrachter Lebensleistung, gilt Faltenlosigkeit heute als beneidenswerter Erfolgsnachweis für geglückte

Abwehrkämpfe gegen ein bedrohlich näherkommendes Ende des Lebens. Solche Abwehrkämpfe sind beispielsweise im Hinblick auf nicht älter werden wollende Knaben erkennbar. Die in ihrem vorwärtsstrebenden Rückzug vor dem Unausweichlichen, genau wieder dort angekommen sind, wo sie schon einmal waren. Indem sie optisch und medizinisch auf vitalen Jungmann gebracht, in ihren wieder wie neu erstrahlenden Oldtimer-Sportwagen hoffnungsfroh nach Frischfleisch Ausschau haltend vor Eisdielen parken. In diesem Zusammenhang rückt freilich auch der 74jährigen Goethe in Erinnerung. Der während eines Kuraufenthalts in einer 17jährigen (!) Ulrike die große Liebe seines Lebens zu erkennen glaubte. Man darf Goethe getrost als kultivierten

Vorläufer deutscher Ekelrentner bezeichnen, die ja in Pattaya und sonstwo mit ihren jungen Girls so etwas ähnliches wie liebestolle Kurgäste sind.

Die erschütternde Tragik aller kämpferisch wieder zurück zur glatten Haut drängenden Vorwärtsbewegungen besteht natürlich darin, keinen Anschluss an sinnvolle Ziele finden zu können. Man kann, wenn man will, den Sinn des Lebens in der Aufgabe festlegen, dem Leben einen Sinn zu geben. Wobei unmittelbar klar ist, dass in dieser Hinsicht nichts sinnvolles von einer Industrie erhofft werden darf, die nichts weiter als glatte Haut verspricht.

Im Gegenteil, der zum Verkauf für allerlei Produkte und Dienstleistungen propagierte Lebenssinn: vorwärts, zurück zum Jungsein, ist Propaganda für ein wohl unüberbietbar unsinniges Leben. Für das freilich vorbildlich geglättete Frontkämpferinnen, Göttinnen der Faltenlosigkeit, frenetisch umjubelt und  regelrecht angebetet werden. Altersverhinderung oder Altershinauszögerung verfolgt das Ziel den Prozess des Alterns so weit wie möglich unsichtbar, bzw. spurlos zu machen. Die dafür relevanten Methoden werden im Neusprech bekanntlich als Anti-Aging bezeichnet.

Es sieht allerdings ganz danach aus als ob Maßnahmen zur Gesichtsstraffung ein   Unterschichtsphänomen sind. Sich eine glatte, jugendlich anmutende Gesichtshaut zuzulegen ist zwar teuer. Andrerseits muss man schon jemand sein um sich mit Falten im Gesicht in seiner Haut wohlzufühlen. Man muss es sich entweder leisten können oder keine andere Wahl haben. Kulturtheoretisch betrachtet möchte ich für Gesichtsstraffung folgende Definition vorschlagen. Anti-Aging ist ein kosmetisch-technischer Rückzug zur eigenen Vergangenheit, und gleichzeitiger Abwehrkampf von dem was tatsächlich ist und kommt. 

Womit Anti-Aging symptomatisch für unsere gegenwärtige Lebenswelt  ist. Obwohl wir im 21. Jahrhundert leben, ist davon paradoxerweise wenig zu sehen. Sind wir doch überall von Zeichen der Vergangenheit umgeben. Eine Flut an Dingen aus der Welt von gestern und vorgestern gelangt unaufhörlich in die Zeit in der wir leben. Dinge, die beglückt als “wieder da” begrüßt werden. Es ist daher bestimmt keine Übertreibung zu sagen, dass sogenanntes  Retro der domierende Trend unserer Gegenwart ist.

Mit Retro, lat. rückwärts, werden ästhetische und technische Rückgriffe auf Konzepte und Formgebungen vergangener Zeiten zusammengefasst. In seiner Gesamtheit leitet man

diesen Phänomenbereich gemeinhin aus einem sehnsuchtsvollen Blick zurück her. Der mit Nostalgie (gr. nostos, zurück) in Verbindung gebracht wird. Womit der Kern dieser Sache jedoch verborgen bleibt. Schließlich sind all die Dinge die so aussehen von früher und Anti-Aging  zwei Seiten derselben Münze. Spurlos beseitigte Falten, als Unbehagen erweckende Zeichen des Alters, werden durch wohlbekanntes Altes, als ästhetische Scheuklappen hinsichtlich einer noch unbekannten Gegenwart ergänzt. Wieder wie neu erstrahlendes Altes, egal ob schon ganz alt

oder als Retro neu interpretiert, prägt, wie euphorisch gesagt wird, als “lebendige Vergangenheit” den Aufbau unserer gegenwärtigen Lebenswelt. Alles Alte, und neu Alte bildet dann zusammen mit erkämpfter Faltenlosigkeit die kulturelle Anti-Aging Frontverkürzung zur Gegenwart. 

Das Verschwinden der Zeit

Abgesehen von bunten Hunden wie Keith Richards sind Heerscharen grauer Mäuse im “vorangeschrittenen” Alter krampfhaft um ein Erscheinungsbild bemüht, das ihre faltenlose Damaligkeit des Jungseins wieder zum Vorschein bringt. Man sieht ja im Alltag öfters Menschen, die schon alles erdenkliche getan haben um so auszusehen als ob sie seit ihrer späten Jugend nicht älter geworden sind. Wobei man es achselzuckend belassen könnte. Wenn sie sich nicht auf Trödelmärkten, Oldtimer-Messen, Antiquitätenauktionen usw. wie über einen Wühltisch ausgebreiteter Damaligkeit beugen würden.

Kaum eine andere Sache illustriert das Verlangen nicht älter werden wollender Menschen nach neuem Alten so deutlich wie die “Neue Frankfurter Altstadt”. Es handelt sich dabei um ein

städtebauliches Großprojekt; den originalgetreuen Nachbau der zerstörten Altstadt. Ein architektonisches Gebilde, das auf den ersten Blick Assoziationen an eine überdimensionierte FALLER Modelleisenbahn Siedlung weckt. Die wie eine nie weggewesene anheimelnde Vergangenheit, so etwas wie einen Sicherheitsabstand, eine Pufferzone zur krassen Gegenwart naheliegender Türme des globalen Finanzkapitalismus bildet.

Ein ähnliches Großprojekt, aber weitaus öffentlichkeitswirksamer, den bis in jedes kleinste Detail originalgetreuen Nachbau der gesunkenen Titanic, wird von einem australischen Investor vorangetrieben. Die Titanic II soll 2022 genau wie ihre Vorgängerin von Southampton nach

New York in See stechen. Als ob das Schiff nie untergegangen wäre, werden an Bord 2500 Passagiere in einem wie unversehrt aus dem Grund des Atlantiks wieder auferstandenen Luxus schwelgen können. Allerdings nicht alle Passagiere. Den Reisenden wird nämlich auch eine zweite, und sogar dritte Klasse zur Verfügung stehen. Jedoch sollen alle Passagiere die  Jungfernfahrt mit nachgeschneiderter Kleidung aus dem Jahr 1912 antreten. Die ihnen auf Kosten der Reederei zur Verfügung gestellt wird. In der sie, wie zu hoffen ist, wohlbehalten wieder festen Boden unter den Füssen erreichen werden. Bis zum Landgang heißt es aber faltenlos fröhlichst jung geblieben eine Seefahrt besonderer Art zu genießen. Und nicht verzeifeln, wenn Eisberge in Sicht kommen.

Ich möchte nun zum Abschluss dieses Beitrags auf die oben angeführte, und wohl rätselhaft erscheinende Bemerkung Nietzsches zur Abschaffung der Welt eingehen. Mit der Abschaffung der “wahren” Welt, sagt Nietzsche, würde auch die “scheinbare” Welt nicht übrig bleiben, sondern ebenfalls verschwinden. Diese beklemmend anmutende Einsicht bezieht sich freilich nicht auf den Weltuntergang. Nietzsche meint, dass mit dem Verschwinden der “wahren” und “scheinbaren” Welt, die Unterscheidung zwischen diesen Welten verschwindet. Womit die Brücke zur hier erörterten Thematik sichtbar wird. Wenn Gegenwart und Vergangenheit sich  wechselseitig durchdringen, wenn das vorwärtsstrebende Zurück zu dem was war, unsere Gegenwart als kulturelles Anti Aging Syndrom prägt, verschwindet die Unterscheidung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Sie ist abgeschafft. Was bleibt ist Zeit. Aber eben nur scheinbar. In einer ans Science-Fiction und Horror Genre gemahnende Mumifizierung der Zeit.