Was unsterblich im Gesang soll leben, muss im Leben untergehn. Lukian

 

Die Postmoderne ist Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Rekonstruktion vorheriger Werte. Sie ist Verrat und Restauration in einem. Jean Baudrillard

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Heimat ist einfach nicht mehr das was sie mal war

Heimat. Was ist Heimat? Allein schon das Wort lässt Gedanken an eine verschwundene Welt der Menschen von Gestern und Vorgestern aufkommen. Man könnte daher versucht sein Heimat als eine Angelegenheit für verträumte Romantiker, rechtslastige Fahnenträger, oder einfach nur als unzeitgemäß abzutun. Und zwar im Hinblick auf eine rasant fortschreitende wirtschaftliche, kulturelle und technische Globalisierung. Die inzwischen in beinahe allen Winkeln der Welt  menschliche Daseinsbereiche weitgehend vereinheitlicht hat.

Der Alltag in Städten wie Rom, Singapore oder London unterscheidet sich kaum von demjenigen in San Francisco, Sidney oder Villingen im Schwarzwald. Die Wohnungen und Häuser sehen nicht nur von außen gleich aus; sie sind auch innen IKEA-artig gleich eingerichtet. Die Leute sind annähernd gleich gekleidet und verrichten an gleich aussehenden Arbeitsplätzen die gleichen Tätigkeiten. Sie sehen in Schaufenstern der globalen Fußgängerzonen überall die gleichen Sachen, fahren auf überall gleich aussehenden Straßen in den gleichen Autos, essen die gleichen Fertiggerichte, haben die gleichen finanziellen Probleme und tragen zu Hause und die gleichen Konflikte aus. Wo soll da noch Heimat sein?

Hinsichtlich einer vereinheitlichten Welt wird heute oft die Auffassung vertreten, dass Heimat nicht mehr unbedingt ein Ort oder eine Gegend, viel mehr aber ein Gefühl wäre. Selbst wenn

man unmittelbar zu verstehen glaubt was damit gemeint ist, stellt sich gleichzeitig auch ein schwerwiegender Verdacht ein. Dass im poetisch anmutenden “mehr Gefühl als Ort” ein Gefühl von Heimatverlust verdrängt werden soll. Heimat ist nämlich “vielerorts” tatsächlich nicht mehr das was sie mal war. Auf jeden Fall nicht die Art von Heimat, wie sie noch im vergangenen Jahrhundert schwärmerisch-rührselig beschrieben und besungen wurde. Manchmal genügt schon ein Blick aus dem Fenster um das recht drastisch bestätigt zu bekommen. Als untrügliches Zeichen für das Verschwinden heimatlicher Örtlichkeiten muss dann beispielsweise

hingenommen werden, dass ausgerechnet dort, wo früher im Schatten des Lindenbaums “der Brunnen vor dem Tore” plätscherte, heute eine Autowaschanlage in Betrieb ist. Was heimatlich eingefärbte Gefühle doch arg in Mitleidenschaft zieht.

Wenn in der Heimat auch vieles verschwindet oder ganz anders wird, verweht die Lebenswelt vorangegangener Generationen nicht spurlos im Wind der Zeit. Es wird nämlich viel, ja sehr viel getan um heimatlich anmutendes zu bewahren, und mit einer entsprechenden Gefühlswelt in Einklang zu bringen. Was mittlerweile dazu geführt hat, dass Heimat in gleich mehrerer Hinsicht ganz groß in Mode gekommen ist. Seit Jahren schon senden Fernsehanstalten wieder die alten Heimatfilme, produzieren heimatlich betonte Serien und erfreuen ein riesiges Publikum mit

musikalischen Darbietungen einer bestimmt unüberbietbar heimatlichen Art und Bedeutung. Um nicht von jenem Heimatappeal zu reden, mit dem für Schinken und Brot, für Milch, Bier, Wein und Finanzdienstleistungen geworben wird.

Wie auf Befehl wird durch die Heimat gewandert und noch viel mehr geradelt. Dass heimatliche Traditionspflege überall die Form von kulturellen Dauerveranstaltungen angenommen hat, muss nicht weiter erwähnt werden. Kaum ein noch so entlegenes Dörfchen, nirgendwo, das nicht von dieser großen Heimatwelle erfasst worden wäre, und sich nicht vom Putz auf dem Gebälk seiner Fachwerkhäuser befreit hätte. Und auch kaum eine Stadt, die nicht stolz auf ihren im heimatlich altehrwürdigen Glanz wie neu erstrahlten Stadtkern hinweisen könnte. Gerade aber hinsichtlich

all jener Kirchturm- Pflasterstein- und Gassenherrlichkeiten, von denen vollmundig gesagt wird, dass sie vor heimatlichem Traditionsbewusstsein nur so strotzen, scheint irgendetwas nicht zu stimmen. So als ob alles wie neu erstrahlende Alte in Ermangelung von Heimat einer gefühlsseligen Inszenierung von Damaligkeit verpflichtet ist.

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Heimat und die vergebliche Suche nach Identität

Heimat ist ein in andere Sprachen unübersetzbarer Begriff. Was ihn zudem schwierig und auch umstritten macht sind höchst unterschiedliche Anschauungen, Erwartungen und Gefühle, die mit ihm verknüpft sind. Und so wie Gott, Leben, Seele, Zeit, Liebe, Realität, Kunst usw. ist daher auch Heimat ein Wort das sich eindeutigen Definitionen zwangsläufig entziehen muss.

In früheren Jahrhunderten wurde Heimat als die Gegend bezeichnet in der man geboren war, oder bleibenden Aufenhalt hatte. Heute werden vornehmlich die sozialen Aspekte und Gefühle angeführt, die in wechselseitigen Beziehungen zu einer Gegend bestehen. Heimat wird dabei, ganz im sandalenhaft sozialpädagogischen Stil der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts als

“Sozialisationsraum” definiert. In dem Eigenschaften wie Identität, Charakter, Mentalität, Wertungen und Weltanschauungen entscheidend mitgeprägt werden. Tatsächlich hat Heimat viel mit persönlicher Identität zu tun.

Auf der Suche nach Heimat zu sein und dabei hoffen der eigenen Identität auf die Spur zu kommen, sind miteinander verknüpfte Suchbewegungen. Die besonders deutlich im Zeitalter der Romantik angestellt wurden. Selbstfindung in der

heimatlichen Gegend wurde, wie im Hinblick auf entsprechende Dichtung und Malerei gezeigt werden könnte, als Schlüssel zur Welt empfunden. Die vielleicht anschaulichste Illustration für diese Suchverwandtschaft sind aber amerikanische Road Movies. In denen die Leute stets mit dem Rätsel konfrontiert sind “wer bin ich, und wo gehöre ich hin”.Meistens besteht ihr Schicksal darin, in einer irgendwie vertrauten, letztlich aber doch fremden, und Fremde ausschließenden Gegend auch sich selbst fremd zu sein. Etwas anderes ist allerdings auch gar nicht möglich. Die Gründe dafür liegen auf der Hand.

Die meisten von uns dürften ihre Kindheit in einer Umgebung erlebt haben, die als überschaubar erschien. In kindlicher Einfalt wurzelte die Überzeugung, dass die nach und nach immer vertrauter werdende Gegend für immer unsere eigene, unveränderbare Lebenswelt bleiben würde. Erst später drängte sich die Einsicht auf, dass es noch eine ganz andere Welt gab. Die uns aufgrund von allem was Erwachsene gelegentlich über sie zu berichteten, erstaunlich, fremdartig und unverständlich, ja abweisend vorkam. Was dazu führte, dass wir uns in unserer eigenen kleinen, allzu vertrauten Welt umso geborgener fühlten.

Es gab somit im kindlichen Dasein zwei verschiedene Welten. Eine bekannte in der wir “hier” lebten, und eine andere, fremde, die sich irgendwo “da draußen” befand. Bezeichnenderweise gibt es einen Spruch für diese Unterscheidung, der früher

eingerahmt und recht häufig im Eingangsbereich der Wohnungen und Häuser hing. Und zunächst einmal wie eine schlichte, im Tonfall stoischer Resignation vorgetragene Lebensweisheit aus dürftigen Stuben anmutet. Erst bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass damit nichts geringeres als eine Handlungsanleitung zur Abwehr einer fremden Welt zum Ausdruck kommen will.

Als Heim wird gemeinhin der bevorzugte Lebensmittelpunkt bezeichnet, der Ort an dem man sich hauptsächlich aufhält. Dort wo man wohnt, zu Hause, bzw. daheim ist. Nun ist aber nicht unverbindlich von irgendeinem Heim die Rede. Es geht hier

ausdrücklich um mein Heim. Womit allerdings weniger das eigene Heim selbst, vielmehr aber eine besitzanzeigende  Grenzziehung sichtbar wird. Und zwar im Hinblick auf die Welt da draußen. Die dem Spruch zufolge ihr Wesen treiben mag, das jedoch hier drinnen; in meinem

Heim, aber außen vor bleiben soll. Diese Gegenüberstellung gewinnt an Trennschärfe hinzu, sobald, was etymologisch ohnehin naheliegt, das Heim mit der Heimat in Verbindung gebracht wird. Wobei dann im Verhältnis zum Tun und Treiben der Welt da draußen Heimat als Rückzugsraum und Abwehrhaltung in Erscheinung tritt. Schließlich liegt es in der Natur der Sache, dass die angestrebte “Ruhstatt” auf Maßnahmen errichtet sein muss, die sich dem eigentlichen Wesen der Welt widersetzen.

Das nun mal hauptsächlich darin besteht mit ständigen und oft auch unbequem Veränderungen einherzugehen. Das heißt, gerade gegen die ernüchternde Tatsache, dass auf der Welt nichts so bleibt wie es einmal war, soll dem Spruch zufolge mein Heim, meine Heimat, ein anzustrebender Gegenentwurf sein. Der die verwirrende Unbeständigkeit daran hindert einem “über die Schwelle” zu kommen. Wenn im Verlauf des Lebens alles drunter und drüber geht und bald nichts mehr so ist wie wir es in Erinnerung haben, soll wenigstens Heimat ein Beständigkeit ausstrahlender  Damaligkeitswert sein.

Von außen herangetragene Veränderungen die diesem Wert abträglich sind, werden daher in der Heimat bekanntlich nicht ohne Entrüstung und Verbitterung hingenommen. Daher verläuft immer eine unüberschreitbare Linie zwischen hier bei uns und dort bei denen. Diese ethnozentrische Grenze wird schon

hinsichtlich so verschiedener Daseinsbereiche wie hier bei uns am Stammtisch, und dort bei denen an der Theke erkennbar. Die auf dem Weg zum Ausgang keines Blickes gewürdigt werden.

Heimat kann nicht die Heimat für alle sein, und ist daher notwendigerweise und von Anfang an immer auch Ausgrenzung. Heimat kann für diejenigen die in ihr heimisch sind, oder sich zu ihr hingezogen fühlen ein wärmender Kaschmirschal für die Seele sein. Anderen wird mit der

Heimat ein Strick um den Hals gelegt. Besonders dann, wenn “Dahergelaufene” oder gar aus Elendsgegenden “Angeschleppte” als unannehmbare Zumutung für die eigene Identität in inszenierter Damaligkeit empfunden werden.