Im Ausland reibt man sich verwundert die Augen, denn in Deutschland scheint es mal wieder so weit zu sein. Rechtsextreme, Fremdenhasser und Antisemiten werden immer mehr, immer lauter und gewaltbereiter. Sie haben sich auch schon beim Militär und in den Dienststellen der Polizei angesiedelt. Wo sie sich augenzwinkernd gegenseitig Hitlerbilder zustecken. Wie um Himmels Willen konnte es ausgerechnet in Deutschland so weit kommen? “Haben die nichts aus ihrer Geschichte gelernt?” Und außerdem, es ist doch erst fünfzig Jahre her, als eine linksrevolultionäre Studentenbewegung zum subversiven “Marsch durch die Institutionen” aufrief. Um die verknöcherte Bundesrepublik mit ihren gut davongekommenen Naziknaben grundlegend zu verändern. Was ist aus dieser linken Weggefährtenschaft geworden? Was hat sie bewirkt? Eine gesellschaftliche Veränderung hat sie zweifellos zustandegebracht. Jedoch nicht die erträumte progressive Gesellschaft. Wohl aber das genaue Gegenteil davon! Und zwar ein deutsches Spießertum, das im zustimmungsheischend strahlenden Heiligenschein seiner moralisch himmelhoch aufragenden, wenngleich niederschmetternden Stumpfsinnigkeit in der Geschichte deutscher Spießereien absolut einmalig ist.
Aber man soll nicht immer gleich mit der Tür ins Haus fallen! Ein Bild kann manchmal mehr als tausend Worte sagen. Wozu hier der kurze Bericht über ein Ereignis dienen soll, das sich vor Corona in einem öffentlichen Verkehrsmittel zutrug. Aber Vorsicht! Werde ich mich doch gleich in einer Art und Weise ausdrücken, die bei moralisch vorbildlich empfindenden Leserinnen und Lesern starkes Unbehagen hervorrufen muss. Also, es war so. In einem städtischen Bus wurden bei einer Kontrolle zwei Schwarzfahrer erwischt. Es handelte sich bei den Delinquenten um einen Neger, der eine Sonnenbrille trug, und einen besoffenen Krüppel. Der krakelend die Anerkennung seiner Menschen- und Krüppelwürde einforderte.
Als die Kontrolleure an einer Haltestelle die beiden Schwarzfahrer nach draußen führen wollten, nahm die Sache ein teils erheiterndes, teils beklemmendes Ende. In seinem Suff rammte der Krüppel beim Aussteigen einem der Kontrolleure, zwar unbeabsichtigt, aber dennoch mit voller Wucht die Krücke auf den Fuß. Was ihn schmerzverkrümmt fluchend zu Boden gehen ließ. Geistesgegenwärtig ergriff daraufhin der Neger seine Chance zur Flucht aus der Obhut des anderen Kontrolleurs. Indem er ihm einen kräftigen Tiefschlag versetzte, und die Benommenheit seines Widersachers nutztend katzenflink Land gewann.
Als ich diese Begebenheit einmal etwas ausführlicher als hier im geselligen Kreis von Bekannten vortrug, wurde ich ständig von einer älteren Juristin unterbrochen. Die amüsiert zuhörte und sich dennoch veranlasst sah mir mit einem Unterton der Entrüstung immer wieder zuzurufen: “aber so wie du redet man doch heute nicht mehr!” Ja, natürlich, ich weiß! Und um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen in einer menschenverachtenden Ecke zu stehen, hätte ich mich anders ausdrücken müssen. Mit Worten, die hinsichtlich der Mühseligen und Beladenen so anerkennenswerte Dinge wie Takt, Respekt, Verständnis, Mitmenschlichkeit, Einfühlung und Solidarität bekunden. Ich hätte daher sagen sollen: “…ein Herr, der den Eindruck erweckte vor kurzem aus Gambia zugereist zu sein, und ein Behinderter, der auf eine Gehhilfe angewiesen war und wohl aus Kummer über sein Schicksal ein Gläschen zu viel getrunken hatte…”
Schon besser. Nicht wahr? In aller Bescheidenheit, das ist nicht nur besser, das hört sich beinahe schon nach preisgekrönter, neuer deutscher Literatur an. Und doch, alle die glauben so oder so ähnlich formulieren zu müssen, sind Menschen, die in einer geistig-moralischen Zwangsjacke stecken. In der die moralische Verpflichtung herrscht sich immerzu einer politisch korrekten Ausdrucksweise zu befleißigen. Was von Menschen wie der eben erwähnten älteren Juristin wohlwollend zur Kenntnis genommen wird. Die man getrost dem heute tonangebenden, deutsch-grün-linksliberalen Gutmenschentum zuordnen darf. Wobei es sich um eine Zeitgeisthaltung handelt, die aus dem politischen Horizont der Alt-68er stammt.
Wobei man nicht umhin kann festzustellen, dass die nunmehr schon etwas älteren und gewiss nicht nur älteren Gut-Deutschen, in ihrer altklugen, von Toleranz und Weitsicht nur so strotzenden,
unüberbietbar selbstgefälligen Aufgeklärtheit im Grunde genommen einfach nur Spießer sind. Auf die Frage wie Spießer zu definieren sind werde ich gleich eingehen. Vorwegnehmend sei gesagt, dass Spießer und ihr Spießertum seit jeher als provozierend empfunden werden. Was zwangsläufig zur Folge hat, dass jedes Spießertum stets auch seine Widersacher hervorbringt. Die dann ihre Angriffe bevorzugt an Stellen ansetzen, wo sich die jeweiligen Spießer am empfindlichsten zeigen.
Man wird vielleicht schon ahnen worauf diese Andeutungen hinauslaufen. Es wird derzeit über die Wiederkehr längst überwunden geglaubter Scheußlichkeiten wie Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus usw. lamentiert. Gründe dafür gibt es leider mehr als genug. Allerdings wird, was erstaunlich ist, um eine wesentliche Ursache für diese Dinge ein weiter Bogen gemacht. Wie aus folgendem Beispiel hervorgehen dürfte, ist es eben nicht nur ein Unmut über die massenhafte Anwesenheit schlechtweggekommener Fremder, die zu braunen bis dunkelbraunen Fundamentalismen geführt hat.
Angenommen, stiernackige Hosenträger marschieren irgendwo vor einer Flüchtlingsherberge
auf. Wo sie ausländerfeindliche Parolen von sich geben und zum guten Schluss das Horst Wessel Lied grölen. Was die Untergebrachten, wie beabsichtigt, in ihrer ohnehin schon starken Verunsicherung in Angst und Schrecken versetzt. Obwohl sie kein deutsch verstehen und auch mit deutschem Liedgut nichts anfangen können. Umso besser können das aber Empörte und Betroffene in örtlichen Zeitungsredaktionen. Für die solche Vorkommnisse in ihrem langweiligen Redaktionsdasein stets ein hochwillkommener Anlass sind, um sich mal wieder so richtig den Frust über Fremdenhass und Nazis von der Seele zu schreiben. Es dauert dann meistens nur ein paar Stunden, bis die üblichen Initiativen ihre üblichen Solidaritätsbekundungen mit Lichterketten und Mahnwachen und allem drum und dran abhalten.
Was wiederum die stiernackigen Hosenträger, denen normalerweise nichts anderes einfallen würde als in ihrer übergewichtigen Bedeutungslosigkeit vor Frittenbuden rumzuhängen, zu weiteren und möglichst öffentlichkeitswirksameren Aktionen anstachelt. So und so ähnlich schaukelt sich das hoch. Wobei eine neue innerdeutsche Grenze zwischen Gut und Böse entstanden ist. Die Guten, Empörten, Entrüsteten, Solidarischen und Betroffenen erliegen freilich einem Missverständnis. Im Grunde genommen sind nicht irgendwelche Fremde, sondern sie selbst die wirklichen Adressaten der Bösen. Das heißt, der angenommene Aufmarsch vor der Flüchtlingsherberge und alles worüber sonst noch große Aufregung herrscht, sind Ereignisse die zusammengenommen auch von einer anderen Seite betrachtet werden können. Sie sind zwar bestimmt nicht nur, aber in einem hohen Ausmaß eben auch Frontalangriffe auf die höchsten geistig-moralischen Güter eines neuen deutschen Spießertums.
Was sind Spießer?
Man wird mit einiger Berechtigung Spießer als Menschen bezeichnen können, die in vielerlei Hinsicht regelrecht stolz auf ihre Selbstgefälligkeit zu sein scheinen. Wer über Spießer und Spießertum theoretisieren möchte wird nicht an Friedrich Nietzsche vorbeikommen. Der im zweiten Hohelied seines Zarathustra die Wesensmerkmale von Spießern beleuchtet.
Entschlossen den geistigen Horizont der Menschen zu erweitern, macht Zarathustra eine unliebsame Erfahrung. Muss er doch bei seiner Begegnung mit Menschen festellen, dass sie nichts anderes wollen als einfach nur so zu sein, wie sie nun mal sind. Und, als ob das nicht schon verwerflich genug wäre, ihr größtes Glück auf Erden darin erkennen, wenn sie sich in ihrem Denken und Fühlen im Denken und Fühlen anderer bestätigt sehen. Menschen die immer dann leuchtende Augen bekommen, wenn sie Gelegenheit haben einander zuzustimmen, und ihr selbstgefälliges aneinander Angepasstsein, mit moralischer Vervollkommnung verwechseln dürfen.
Was aber hat das mit heutigen Deutschen, und einem um sich greifenden Fanatismus und Rechtsextremismus zu tun? Der Schlüssel zum Verständnis dieser Dinge ergibt sich im Hinblick auf Radikalität. Das Wort hat eine negative Färbung. Dabei war Radikalität früher eine selbstverständliche Haltung in Künsten und Philosophie. Sie galt als frische Luft, die dafür sorgte, dass Kultur nicht zum Schnarchkonzert verkam. Radikalität ist daher so etwas wie ein geistiges Überlebensmittel. Wird sie im Kunst- und Geistesleben einer Nation vernachlässigt, treten schreckliche Folgen auf. Breitet sich Radikalität doch dann automatisch von ohnehin schon aufgebrachten Rändern der Gesellschaft zu deren Mitte hin aus. Wo sie aber keine Funktion als geistige Frischluftzufuhr wahrnimmt. Statt dessen aber in Formen wie Fremdenhass und Antisemitusmus als nasser dreckiger Lappen Gesitteten ins Gesicht geschleudert wird. Die dann ihre heile Welt nicht mehr verstehen und mit Grabesstimme nach Beendigung von Zuständen verlangen, die sie selbst hervorgebracht haben.
Deutschland ist als Exportnation auf Zuwanderung kompetenter Arbeitskräfte angewiesen. Alles was hier geschieht wird auch im Ausland wahrgenommen. Wodurch nicht nur ein Imageproblem entsteht. Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und Ausländerhass führen auch zu einer Gefährdung des Wohlstands. Diese Dinge lassen sich aber nicht abschaffen, ja noch nicht einmal eindämmen, indem man zusammensteht, “Haltung” annimmt und sich gegen sie
ausspricht. Diese Dinge lassen sich nicht mit abgedroschenen Phrasen und kämpferischen Haltungen aus dem vorigen Jahrhundert lösen. Hilfreich ist nur die entschlossene Bearbeitung ihres gesellschaftlichen Nährbodens. Einer vor fünfzig Jahren auf Straßen und in Universitäten ins Leben gerufenen, mittlerweile fest etablierten Leidenschaftslosigkeit in allen geistigen und kulturellen Dingen: Dem selbstgefälligen Clubabzeichen aller Spießer.