Unsere Erleichterungen sind es, die wir am härtesten büßen müssen”      Friedrich Nietzsche

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Normalität – Ein Zustand der normalerweise nicht hinterfragt wird

Es kommt im Leben immer anders als man denkt. Wer auf ein Abklingen der Pandemie gehofft hatte wurde enttäuscht. Ist sie doch durch Mutationen mittlerweile wieder auf dem Vormarsch. Man wird daher auch weiterhin mit notwendig gewordenen Abwehr- und Vorsichtsmaßnahmen leben müssen. Damit verbundene Einschränkungen werden als unangenehm und teilweise auch als absolut sinnlos empfunden. Was zu regelrechten Widerstandsbewegungen gegen staatlich angeordnete Vorkehrungen geführt hat. Um nicht von radikalisierten Impfgegnern, Corona-Leugnern und anderen Durchgeknallten zu reden, die hinter der ganzen Sache eine böswillige Verschwörung wittern

Die Gefahr durch das Virus wird nach wie vor unterschätzt. Sie wird allerdings auch nicht deutlich genug kommuniziert. Wissenschaftlich argumentierende Experten wären gut beraten ihre ernüchternden Erkenntnisse mit Horrorfilmen zu illustrieren. In denen Leute irrtümlicherweise glauben höllischen Mächten entronnen zu sein; nur um am Ende dennoch vom Bösen eingeholt zu werden. In welchem Ausmaß es Corona-Ermüdete noch heimsuchen wird, lässt sich einstweilen nicht sagen. Sicher ist nur, dass trotz besorgniserregender Fallzahlen und ständig neuen Mutationen eine möglichst baldige Rückkehr zur Normalität herbeigesehnt wird. Was aber ist Normalität?

Normalität ist ein Zustand, in dem ein ungehindertes Mittun bei allem was üblichen Normen entspricht nichts im Wege steht. Normalität besteht aus Selbstverständlichkeiten. die im gesellschaftlichen und persönlichen Leben einen gewohnten, nicht zu hinterfragenden Platz einnehmen. Alles was nicht zur Normalität gehört, wie etwa bei einer Beerdigung von einem Lachkrampf gepackt zu werden, ist daher bildlich gesprochen “fehl am Platz”. Das heißt, dass Dinge die da sind wo sie nicht hingehören, im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt sind. So wie ja auch das Verhalten von Ver-rückten aus üblichen Normen entrückt ist. Freilich kommt es dabei wie bei vielem anderen auch, auf den Blickwinkel an. Es ist nämlich durchaus möglich in unserer Normalität nichts anderes als eine Orgie in verrückten Selbstverständlichkeiten zu  erkennen.

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Die Stadionwurst als Beispielgeber für ganz normale Verrücktheiten

Falls keine Geisterspiele ohne Zuschauer ausgetragen werden müssen, wird dramatisch hin- und herwogendes Geschehen auf dem Rasen mit erhöhter Aufmerksamkeit lautstark verfolgt. Wobei 

sich Energiespeicher leeren. Die durch den Verzehr der Stadionwurst wieder aufgefüllt werden. Sie ist für Fans der essbare Begleitumstand zum Spielgeschehen. Wobei jedoch die kulinarische Praxis auf den Rängen der antrainierten Praxis auf dem Platz diametral entgegengesetzt ist. Schließlich müssen Kicker bei ihrer kraftraubenden Arbeit nach Luft schnappen, während beim genüsslichen Biss in die Wurst ihr Saft an den Gaumen spritzt. 

Würste sind Nahrungsmittel, die neben allerlei Zusätzen größtenteils zerkleinertes Fleisch, sowie Innereien und Blut enthalten. So gut eine Wurst auch schmecken mag; bei ihrer Herstellung anwesend zu sein dürfte Mageninhalte explosionartig nach oben treiben. Würste haben Tiere zur Voraussetzung, die aus Kostengründen schnellstmöglichst zur Schlachtreife heranwachsen müssen. Die Geschwindigkeit dieses Wachstums hat durch Errungenschaften der chemischen Industrie inzwischen ein Niveau erreicht, das der Durchschnittsgeschwindigkeit bei Formel 1 Rennen ebenbürtig ist. Dass die Tiere über längere Strecken hinweg zusammengepfercht zu Schlachthöfen transportiert werden ist bekannt. Bekannt sind auch mit Abtötungsvorgängen verbundene Tierquälereien. 

Bei genauerem Hinsehen offenbaren als “normal” geltende Vorbereitungen zur Wurstherstellung freilich eine noch viel schrecklichere Dimension. Organisatorische Methoden zur einstmals  

industriellen Massenvernichtung von Menschen in deutschen Vernichtungslagern sind mit “normalen” Vorgehensweisen in Schlachthöfen strukturgleich. Das ist kein Zufall. So wie es damals mit Menschen, wird es heute mit Tieren gemacht. Das ist völlig normal! Die Bilder 

gleichen sich auch insofern wenn man bedenkt, dass in Vernichtungslagern Häftlinge und Zwangsarbeiter die Drecksarbeit verrichten mussten, während in Schlachthöfen osteuropäische Arbeiter einer nicht hinterfragten Normalität gemäß zu Hungerlöhnen schuften. Ähnlich zusammengepfercht wie die herangekarrten Tiere müssen auch sie auf engstem Raum in ganz normal heruntergekommenen Sammelunterkünften hausen. Wo sie sich gegenseitig mit dem Virus anstecken. 

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Immunokratie gegen die Macht verrückter Gewohnheiten

Über Selbstverständlichkeiten wie die Stadionwurst zu reden, ist im Blickfeld der Normalität eine Sache für Verrückte. Nun hat sich allerdings Corona als Zuchtmeister einer verrückten Normalität erwiesen. Das Ver-rückte an Corona besteht ja darin, dass die Pandemie dazu zwingt eine bislang nicht hinterfragte Normalität auf den Prüfstand zu stellen. Das Virus zwingt uns Normalität als das zu sehen was sie tatsächlich ist: Ein Mosaik von Verrücktheiten, in denen Angriffspotentiale auf Leib und Leben schlummern. So gesehen kann aus der Pandemie der Entwurf für eine andere Normalität, für eine andere Art zu leben und für eine andere Art miteinander umzugehen hergeleitet werden.

Der Mensch ist weniger ein Gewohnheitstier als vielmehr das Opfer seiner Gewohnheiten. Wir leben zwar in Häusern und Wohnungen, werden aber von unseren Gewohnheiten bewohnt, oder besser gesagt; beherrscht. Deshalb kommt die Beherrschung auf Abwege, wenn sich gewohnten Wiederholungen unserer Gewohnheiten Hindernisse in den Weg stellen. Das können alle bestätigen die in einen Stau geraten, statt wie gewohnt zügig voranzukommen. Einlullende Gewohnheiten sind normalerweise mit Lernvermeidung verbunden. Wenn aIles wie immer gemacht wird, ist die Frage nach alternativen Vorgehensweisen überflüssig. Die 

Frage, weshalb es Jahr für Jahr im vollbesetzten Flieger nach Spanien oder sonstwohin an überfüllte Strände geht stellt sich Urlaubern nicht. Gehören doch Sonne, Sand, Suff und Stress zu Gliedern einer selbstverständlichen Normalitätskette. Deren tatsächliche Verrücktheit erst durch Corona bloßgelegt wird. Die Beispiele könnten beliebig verlängert werden. Klimaanlagen gehören zur Normalität. Verrückt daran ist nur, dass sie ansaugen was ausgeatmet wird, um es anderen 

ins Gesicht zu blasen. So genau sieht man das jedoch erst seit Corona. Das Begrüßungs- und Abschiedsritual des Händeschüttelns stammt aus dem griechischen Altertum. Wobei auf einen angemessen festen Händedruck Wert gelegt wird, der zudem mit einem betont offenen Blick einhergehen sollte. Ein Brauch, dessen Normalität vor Corona niemals ernsthaft bezweifelt wurde.     

Es ist zu befürchten, dass Covid-19 nie wieder verschwindet. Außerdem werden andere Viren kommen. Da die globalisierte Welt nicht so menschenleer wie die Antarktis, sondern so dicht gepackt wie der Strand von Benidorm im August ist, heißt es Abschied von liebgewonnenen Gewohnheiten zu nehmen. Individuelle Freiheiten wird es ohne Verantwortung für andere nicht mehr geben können. Das Hohelied auf demokratische Errungenschaften kann daher nicht länger ohne die Strophe der Immunokratie gesungen werden. Einem Verfahren zur Neuregelung der Grundangelegenheiten des Lebens. Das nunmehr notwendig gewordene “Abstand Halten” ist möglicherweise der Beginn einer segensreichen sozialen Revolution. Dort zu sein wo sich die Ärsche reiben, oder in Konzerten zu Hunderten dicht gedrängt Schulter an Schulter zu sitzen ist ohnehin schon würdelos genug. Nun ist ein derartiges Verhalten jedoch auch lebensgefährlich. Wodurch eine Rückbesinnung zum geistigen Nutzen der Distanz zwischen Mensch und Mensch erzwungen wird.