Von Berthold Brecht stammt der Kraftspruch, demzufolge erst das Fressen und dann die Moral kommt. Der hemdsärmlige Weltverbesserer wollte damit sagen, dass man von Menschen, denen der Magen knurrt, kein Ohr für ethische Standpunkte erwarten darf. Allerdings muss fraglich bleiben, ob ein gut gefüllter Magen die Heranbildung eines ethischen Gewissens begünstigt. Es sieht nicht danach aus. Im Gegenteil! Brechts klassenkämpferische Vorrangstellung des Fressens über die Moral ist nämlich inzwischen in ein wohl unüberbietbares Extrem gesteigert.
Schließlich ist dafür gesorgt, dass man sich in unserem Teil der Welt regelrecht zu Tode fressen, und dabei aus vollem Herzen auf die Moral scheißen kann.
Zwar leiden 800 Millionen Menschen an Hunger, tatsächlich aber sterben heute mehr Menschen an Über- als an Unterernährung. Etwa zwei Milliarden Menschen sind übergewichtig. Annähernd
die Hälfte davon ist fettleibig. Auch in Ländern, in denen die Menschen früher so schlank wie Stabhochspringer waren. Dabei fehlt es nicht an Ermahnungen weniger zu fressen und mehr an den immer bedrohlicher werdenden Zustand unseres Planeten zu denken.
Allerdings sind es ja nicht nur barbarische Fressgewohnheiten, die uns an den Rand des Abgrunds gebracht haben. Nur echte Flegel und Ignoranten wollen immer noch nicht wahrhaben, dass sich angesichts des Klimawandels und anderer katastrophaler Entwicklungen an unserem Verhalten einiges ändern muss. Ist doch sonst mit Zuständen zu rechnen, die durchaus zum Untergang der Menschheit führen könnten.
Wir müssen unser Verhalten ändern! Aber können wir uns überhaupt ändern?
Man wird geneigt sein diese Frage mit einem klaren ja zu beantworten. Aber mit welcher Begründung? Was wir tun und wie wir leben sollen, sind Grundfragen der Moralphilosophie. Immanuel Kant (1724 – 1804) vertrat die Auffassung, dass wir für alles was wir tun, und nicht tun, selbst verantwortlich sind und durch Vernunft auf den richtigen Weg geführt werden. Er formulierte eine Regel, die uns zeigen soll ob eine Handlung gut oder schlecht, moralisch vertretbar oder verwerflich ist. Sie lautet vereinfachend gesagt: “was du nicht willst was man dir tut – das füg auch keinem anderen zu.”
Als Imperativ bezeichnet man einen Aufruf oder Mahnruf, und Kant nannte diese Regel den kategorischen Imperativ. (I. Kant, GMS 421, 7 – 8) Es gibt freilich noch einen viel weitreichenderen, tiefergehenderen Imperativ. Den es schon in allen Völkern und Zeiten gab und als ultimativer Imperativ bezeichnet werden könnte. Er lautet: du musst dein Leben ändern!!!
Das ist der gebieterische Mahnruf aus dem Mund von Menschen wie Konfuzius, Mohammed, Jesus, Buddha oder Greta. Er wird der Menschheit zugerufen um sie aus abwegigen Dämmerzuständen wachzurütteln. Greta in einem Atemzug mit diesen Männern zu nennen mag vermessen erscheinen. Jedoch wird sie mittlerweile von sich selbst nichts anderes annehmen können, als in dieser Liga angekommen zu sein. Aber lassen wir das. Dass wir im Hinblick auf den Planeten unser Leben in vielerlei Hinsicht unbedingt, und auch schnellstens ändern müssen, ist ein unumstößliches Gebot der Vernunft.
Was aber leider leichter gesagt als getan ist. In menschlicher, allzumenschlicher Hinsicht besteht das größte Problem der Menschheit seit jeher darin, ihr Leben gar nicht ändern zu können. Selbst wenn sie noch so wollte. Weshalb nicht? Was uns schon immer daran gehindert hat zur Vernunft zu kommen ist eine Sache, die in der Bibel mit der resignierenden Feststellung umschrieben ist, dass der Geist willig, das Fleisch aber schwach ist. Und eben das trifft nicht nur auf Vollgefressene zu, die gerne abnehmen wollen, dem Anblick von Verlockungen an der Fleischtheke aber nicht widerstehen können.
Der willige Geist bei gleichzeitiger Schwäche des Fleischs berührt eine tiefere, anthropologische Dimension. Die eine notwendige Änderung unseres Verhaltens erschwert, wenn nicht sogar verhindert. Worin besteht dieser Verhinderungsgrund? Er tritt zutage wenn man bedenkt, dass der Mensch von Gewohnheiten bewohnt ist. Und eigentlich noch nie etwas anderes getan hat als immer nur das, was unmittelbar dem Überleben dient: Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Informationsbeschaffung, Machtausübung. Das ist im Grunde genommen alles. Außer der Art und Weise wie infragekommende Aktivitäten vonstatten gehen, hat sich daran seit den Zeiten der ersten Menschen nichts geändert.
Das Dilemma der vielleicht letzten Menschen besteht nun aber darin, dass wir, um zu überleben, davon leben müssen wie wir leben. Das klingt nebulös. Wie ist das zu verstehen? Dahingehend, dass wir in einer Falle sitzen. Wir sind nämlich heute keine selbstständigen Wesen mehr, sondern zwangsläufig auf die Existenz einer Wirtschaft angewiesen, deren Waren und Dienstleistungen unser Überleben sicherstellen. Was mit folgenden Beispielen illustriert werden kann.
Unsere Ernährung verdanken wir heute einzig und allein der Lebensmittelindustrie. Wir würden ohne sie innerhalb kürzester Zeit verhungern. Selbst Fortpflanzung ist ohne bestimmte Wirtschaftsleistungen kaum vorstellbar. Zwar hat Fortpflanzung (noch) Menschenpaare
zur Voraussetzung. Die aber erst einmal zusammenfinden müssen. Ohne eine Mode- und Schönheitsindustrie würden dafür notwendige Signalwirkungen fehlen.
Im Überlebenskampf war es immer notwendig, zum eigenen Vorteil über das Tun und Treiben anderer im Bilde zu sein. Dazu brauchen wir heute nur noch in krassen Ausnahmefällen hinter einem Gebüsch kauern. Moderne Medien beschaffen uns alle nur denkbaren Informationen über andere mit ständig wachsender Effizienz. Wobei noch folgendes anzumerken wäre. Ebenso wie man sich zu Tode fressen kann, ist es gemäß Neil Postmans “Wir amüsieren uns zu Tode” auch möglich, vor lauter Mangel an Ernsthaftigkeit im Meer der Belanglosigkeiten zu ertrinken.
Schließlich wäre noch zu erwähnen, dass kein Mensch in der Lage ist über sich selbst zu herrschen. Dieser Nachteil wird seit jeher dadurch ausgeglichen, indem über andere geherrscht wird. Daher hat sich die überlebensnotwendige Fähigkeit herangebildet, mit allen nur erdenklichen Mitteln Macht über andere auszuüben. Um im privaten und beruflichen Umfeld Widersacher klein zu halten, genügt psychische Gewalt. Um aber Menschen auszuschalten die
einem den hart erkämpften Fressnapf streitig machen, können die Angebote einer riesigen, ständig wachsenden Waffen- und Rüstungsindustrie angenommen werden. Die den uralten Willen andere ins Gras beißen zu lassen mit Händen greifbar machen.
Verzichten. Die neue Menschenpflicht mit fatalen Nebenwirkungen
Man sieht, es ist schwer vorstellbar wie mit derartigen Gegebenheiten grundlegende Veränderungen menschlicher Verhaltensweisen zustandegebracht werden könnten. Wir sind nun mal ein rücksichtsloses, gewalttätiges, selbstgefälliges, gefräßiges und von wohligen Gefühlen beherrschtes Ungeheuer. Auch alle großen, zu Sanftmut und Einsicht aufrufenden Weltreligionen konnten daran nichts ändern. Zweifellos gibt es Vernunft. Jedoch werden wir zwischen der Notwendigkeit zur Vernunft und dem Zwang zur Unvernunft hin- und hergerissen. Ich möchte dazu den Theologen und Wohltäter Albert Schweitzer (1875 – 1965) mit einer radikalen Selbsterkenntnis zu Wort kommen lassen.
Auch ich bin der Selbstentzweiung des Willens zum Leben unterworfen. Auf tausend Arten steht meine Existenz mit anderen in Konflikt. Die Notwendigkeit Leben zu vernichten und Leben zu schädigen, ist mir auferlegt…Meine Nahrung gewinne ich durch Vernichtung von Pflanzen und Tieren…Mein Glück erbaut sich aus der Schädigung von Nebenmenschen.
Es liegt auf der Hand, dass dies keine idealen Voraussetzungen sind um den Kampf gegen die Erderwärmung zu gewinnen. Was aber, wenn bereitwillig auf Dinge verzichtet würden, die den Klimawandel vorantreiben? Ohne Verzicht kein Klimaschutz! Und ohne Klimaschutz immer weiter an den Abgrund. Das ist einerseits nicht schwer zu begreifen, andrerseits aber ein Schuss in den heißen Ofen.
Im Hinblick auf den Klimawandel wird viel über individuelle Verantwortung und Lebensstile gesprochen. Fahradfahren, Ökostrom, Energiesparlampen, regionale Produkte, Lebensmittel vom Bauern usw. sind angesagte Dinge. Wenn Greta über den Atlantik segelt um klimaschützend nach New York zu kommen, ist es doch
beinahe schon obszön nach Bali zu fliegen. Statt den Urlaub zu Hause auf dem Balkon zu genießen.
Um den Klimawandel aufzuhalten wird mit moralisch erhobenen Zeigefingern Verzicht als Menschenpflicht gepredigt. Leute die unbekümmert so weiterleben wie bisher werden schräg angeschaut, und dabei vom schlechten Gewissen beschlichen. Das ist beabsichtigt. Der Biss ins argentinische Fleisch soll aufgrund salbungsvoller Verzichtpredigten zum Gewissensbiss führen. Und hemmungsloser Konsum ist schon so etwas wie die neue Häresie. Wer aber anderen ein schlechtes Gewissen mit dazugehörendem Gewissensbiss einredet, bewirkt nicht unbedingt Demut, sondern Trotzreaktionen. Der wutschnaubende Ausruf: “Greta nervt!” ist dafür bezeichnend.
Und überhaupt, weshalb das Joghurtbecherdeckelchen klimaschonend entsorgen, wenn ein demokratisch gewählter Halunke wie Bolsonaro ungehindert den
Regenwald abfackeln lassen kann? Demokratie als Staatsform und Klimawandel sind wechselweise miteinander verbunden. Solange beim Klimaschutz ein Nachdenken über Demokratie unterbleibt, wird es auch in Zukunft zur demokratisch legitimierten Freiheit Einzelner gehören, mit einem “nach mir die Sintflut” Verhalten dem Rest der Welt den Finger zu zeigen.
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