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Mit ‘nem Teelöffel Zucker…
Fallen sind heimtückische Anordnungen. Sie werden angefertigt um freiheitsberaubende oder tödliche Überraschungseffekte herbeizuführen. So enthalten beispielsweise Rattenfallen eine Lockspeise, die sich den von Hunger geplagten Tieren erst dann erschließt, wenn es zur Umkehr zu spät ist. Obwohl die Aufstellung solcher Fallen für hungernde Menschen einen Aufschrei des Entsetzens hervorrufen würde, sind Überlegungen zur Existenz einer Menschenfalle keinesfalls abwegig. Wobei im Vergleich zu Rattenfallen allerdings eine weitaus raffiniertere, ja sogar unüberbietbar boshafte Anordnung in Betracht käme. Wäre doch in der Menschenfalle das Leben selbst die Lockspeise. Die bei jeder Geburt, also bei jedem Entritt ins menschliche Leben, und schließlich auch für den Rest des Lebens aufgrund eines angeborenen Selbsterhaltungstriebs angenommen werden muss. Falls sie nicht durch einen am eigenen Leib vollzogenen Austritt aus dem Leben verschmäht wird.
Richten wir nun aber unseren Blick von dieser düsteren “Friss oder Stirb” Unausweichlichkeit zu einem farbenfrohen Gemälde mit dem Titel: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Mit diesen philosophisch anmutenden Fragen hat der französische Maler Paul Gauguin sein
berühmtestes Gemälde benannt. Es entstand 1898 im Verlauf eines einzigen Monats unter kläglichen Umständen auf Tahiti. Auf dem Bild sind in leuchtend gelblichen und orangenen Farben für die damalige Zeit südseetypisch wirkende Menschen jeden Alters zu sehen. Die vor einem bläulichen Hintergrund teils stehend und teils auf dem Boden sitzend den Eindruck erwecken, in einer melankolisch-resignierenden Stimmung weltabgewandt in sich vertieft zu sein. Der Maler hat sie offenbar in einem symbolischen Lebenszyklus arrangiert, der sich von einem schlafenden Kleinkind bis hin zu einer sich in ihren Tod hineinschlafenden Greisin erstreckt.
Falls man bei den Fragen die Gauguin seinem großartigen Haupt- und Meisterwerk voransetzt, nicht auf religiöse oder metaphysische Gesten ausweichen möchte, kann bei ihrer Beantwortung nüchtern formuliert werden. Wir befinden uns irgendwo in den unergründlichen Weiten des Universums auf einem winzigen Kügelchen. Auf dem wir als Menschen ebenso wie andere Lebewesen dem Prinzip eines ständigen Kommens und Gehens unterworfen sind. Allerdings, und das ist gewissermaßen der Teufelsfuß daran, nicht als Reisende aus freien Stücken. Wir haben weder unsere Ankunft noch unseren Aufenthalt in dieser Welt selbst gewählt. Vielmehr sind wir ohne eigenes Zutun in die Welt gesetzt worden.
Und zwar aufgrund eines Vorgangs, der in der Bibel mit seid fruchtbar und mehret euch (Mose 1, 9:7) umschrieben wird. Einer Sache, der sich die ganze Menschheit seit jeher schon auch ohne Gottes Zuruf bereitwilligst hingibt. Immerhin liegt Fortpflanzung in der Natur der menschlichen Sache. Die von den Fortgepflanzten im Nachhinein nicht rückgängig gemacht werden kann. Sind wir erst einmal in die Welt “gepflanzt”, stecken wir drin und kommen nicht mehr fort. Wir sind daher genötigt uns mit dem “geschenkten”,genau genommen aber aufgezwungenen Leben als einer vollendeten Tatsache abzufinden. Was gelegentlich als unerträgliche Last empfunden wird. So macht Hiob im Tonfall einer zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit Gott den Vorwurf, von seiner Mutter geboren worden zu sein.
Zum Ekel ist mein Leben mir, so lass ich meinem Jammer freien Lauf: reden will ich in meiner Seele Bitternis. Ich sage zu Gott: warum denn ließest du mich aus dem Mutterschoß kommen? (Hiob, 10, 1-18)
Natürlich geht Gott über derartige Jeremiaden achselzuckend hinweg. Ähnlich wie Schweinezüchter, die, wenn für ihre Dickerchen des letzte Stündlein naht, auch beim jämmerlichsten Gequieke unberührt bleiben. Der in einer ländlichen Gegend aufgewachsene, und mit dem Vokabular der Schweinezucht vertraute Denker Martin Heidegger, hat denn auch die Unausweichlichkeit des auf der Welt sein mit bewundernswerter Kühnheit als “Geworfenheit” bezeichnet. Als ein ungefragt in die Welt “geworfen” zu sein. (Sein und Zeit § 39) Seine damit einhergehende Rede vom “Sein zumTode” muss hinsichtlich dieser Wortwahl tatsächlich Gedanken an Schweinezucht aufkommen lassen.
Sich in einem Dasein zu finden, von dem man vorher nichts wusste, ist ein Zustand, der, um es weniger drastisch zu sagen, einem in die Welt hineingeraten sein entspricht. Wogegen Sören Kierkegaard sich händeringend auflehnt. “Wo bin ich? Was heißt denn das; die Welt? Was bedeutet dieses Wort?” Und so als ob für dieses Verlorensein jemand verantwortlich gemacht werden könnte, steigert Kierkegaard sein Klage in eine regelrechte Anklage gegen Unbekannt. “Wer hat mich in das Ganze hineinbetrogen, und lässt mich nun stehen?” (S. Kierkegaard, Die Wiederholung, Düsseldorf 1955, S. 70f.) Es ist das Wort hineinbetrogen, das hier aufhorchen lässt, und im Gegenstz zu Heideggers blinder Geworfenheit an eine boshafte List denken lässt.
Die darin gipfelt, dass mit der Annahme des Lebens als Lockspeise ein Leidenszustand beginnt. Nach allem was seit Menschegedenken dazu gesagt wurde, scheint nämlich die Bekömmlichkeit dieser Lockspeise viel, ja sehr viel an Wünschenswertem übrig zu lassen. Immerhin lebt der Mensch, wie es heißt, nicht vom Brot allein. Das Bedürfnis macht sich darüber hinaus geltend, neben dem unabdingbaren Verzehr des täglichen Brots auch hin und wieder wenigstens einen, besser aber zwei Drinks zu sich zu nehmen. Das heißt, dass schon immer ein Wünschen und wohl auch unbezähmbares Streben darauf ausgerichtet ist, die an sich nur karge Lockspeise Leben mit der größtmöglichen Portion Glück so schmackhaft wie möglich zu machen. Leider aber besagt die allgemeine Erfahrung, dass, wie immer man es auch anfangen mag, Glück nur schwer zu finden ist und dauerhaftes Glück sich nicht einstellen will. Im Gegenteil! Für die meisten treibt das Leben in einem trüben Strom ständiger Unannehmlichkeiten, Entbehrungen, Enttäuschungen und Krankheiten seinem unaufhaltsamen Ende entgegen. Schopenhauer dürfte daher mit der Vermutung recht haben, dass Verstorbene lieber in ihren Gräbern bleiben, statt ins Leben zurückkehren zu müssen.
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Schönheit, Zeugung und Tod
Die Erkenntnis, dass der Mensch zwischen Kot und Urin zur Welt kommt, ist für Männer mit eine brutal nackten Wahrheit verbunden. Treibt doch der Geschlechtstrieb den Mann genau dorthin zurück, wo er ursprünglich herkam. Diese physiologische Einsicht und metaphysische Aussicht wird von Männern oftmals als problematisch empfunden. “Zuweilen spucke ich zum Spaß auf das Bild von meiner Mutter!” So heißt bezeichnenderweise ein Zeichnung von Salvador Dali. Für männlichen Mutterhass sowie Berührungsscheu vor weiblicher Genitalität dürften mehr oder weniger unbewusste Rückblicke auf den Kanal ins irdische Leben zumindest mitverantwortlich sein. Freilich ist jeder sexuell begehrende Blick auf Frauen niemals etwas anderes als ein Blick zurück zur eigenen Herkunft. Frauenfeindlichen islamischen Bekleidungsvorschriften könnten Zyniker daher zugute halten, dass sie glücklicherweise dazu da sind um Männer nicht bei jedem Schritt auf den “Heimweg” geraten zu lassen.
Bettgeschehen wird zwar als beglückend erlebt; jedoch besteht zwischen Zeugung und Tod eine unauflösliche Wechselbeziehung. Ist doch alles Lebende was den weiblichen Körper verlässt, unerbittlich zum Tode verurteilt. Das männliche, triebhaft bedingte Zurück in den Zeugungskanal, in den fleischlichen Nährboden der Gattung, ist daher die immergleiche physiologische Symbolik der letzten Passage. Die den toten Körper aus der Gemeinschaft noch Lebender, zurück in den immer wieder neu gebährenden Nährboden der terra mater führt.
Eine Betrachtung der Venus Verticordia, einem von Dante Rosetti (1828 – 1882) geschaffenen Gemälde, verdeutlicht diese ewigen Kreislauf. Inmitten einer Menge roter Rosen, die einen betörenden Duft zu verströmen schein, steht eine schöne junge Frau. Man sieht sie mit Apfel und Pfeil; erotisch
lockend und leise warnend zugleich. Sie kennt das schreckliche Gift im Apfel den sie darbietet, und sie durchschaut von Anfang an das trügerische, allzu kurze Glück, das diejenigen befällt, die trotz Warnung auf ihre Schönheit hereinfallen. Und mit denen sie sogar Mitleid zu bekunden scheint.
In ihrer Melankolie steht die eisige Erkenntnis, dass ihr junger Leib mit seiner überirdisch lockenden Schönheit nur das raffinierte Täuschungsmanöver der alten Mutter Erde ist. Das den Kreislauf von zwischengeschlechtlicher Annäherung, Zeugung, Geburt eines neuen Menschen und darauf folgenden Tod der Zeugenden verschleiert. “Lieben, und bei Verstand bleiben, ist keinem Gott möglich”, wussten die Alten. Was diese Einsicht verschweigt ist der Umstand, dass ohne blinde Unvernunft die Gesetzmäßigkeit der Liebe wohl kaum zu ertragen wäre. Die vermeintliche Köstlichkeit im Apfel ist in Wirklichkeit nur eine versüßte Wegzehr, die zur unausweichlichen Gefangenschaft in der Menschenfalle führt.