Früher zertrümmerten Bilder- und Maschinenstürmer ihre Hassobjekte mit dem Hammer. Heute aber leben wir im Zeitalter der Menschenstürmerei. Wobei immer mehr Menschen aufgrund tatsächlich begangener oder angeblicher Verfehlungen aus ihrem Dasein im öffentlichen Leben hinweggefegt werden. Schrecklichen Ungeheuern wie dem Hollywood-Boss Harvey Weinstein und wunderlichen Autoren wie Karl May geht es dabei gleichermaßen an den Kragen. Dem Verfasser von Winnetou wird neuerdings ein hochproblematischer, ja sogar rassistischer Blick auf amerikanische Ureinwohner vorgeworfen. Weshalb die sofortige Einstellung der alljährlich stattfindenden Karl-May-Festpiele in Bad Segeberg verlangt wird. Da der Komponist Richard Wagner leidenschaftlicher Antisemit war, ist es bestimmt nur eine Frage der Zeit bis den Meistersingern in Bayreuth nach der letzten Strophe Hausverbot erteilt wird. Friedrich Nietzsche war zwar schon immer umstritten; heute wird aber ernsthaft bezweifelt ob er überhaupt noch in öffentlichen Bibliotheken stehen darf. Hat er doch nicht nur Frauen mit Hähme und Hasstiraden überschüttet, sondern auch die Demokratie zutiefst verachtet.
Um nicht von Martin Heidegger zu reden. Seine Bücher in der Öffentlichkeit zu lesen sollte besser unterbleiben. Man ist nämlich sonst gleich einem ganz, ganz schlimmen Verdacht ausgesetzt.
Der Philosoph hat bekanntlich zeitweise mit den Nazis sympathisiert. Aber noch viel mehr Dreck am Stecken hat Bismarck. Der mit seinen rassistisch-kolonialistischen Landaufteilungen Afrika ins Chaos stürzte. Wovon der Kontinent sich bis heute nicht erholt hat. Dass nach einem solchen Mann Schulen benannt sind, ist als Skandal verschrien. Das gleiche gilt für Mohrenstraßen und Mohrenapotheken. Wer es wagt Einwände gegen ihre Umbenennung vorzubringen, tut gut daran ein One Way Ticket nach Sibirien zu buchen. Das kann heutzutage übrigens vielen nahegelegt werden. Unter anderem auch Liebhabern der Schauspielkunst, die im Fahrwasser der #MeToo Bewegung so unklug sind ihre Bewunderung für Klaus Kinski nicht für sich zu behalten.
Der Überwachungsstaat kann warten. Die Überwachungskultur ist doch schon da
Die Liste mit Namen untragbar gewordener Personen wird täglich länger. Es vergeht auch kein Tag an dem in den Medien nicht genüsslich bis wichtigtuerisch von Leuten berichtet wird, die sich auf den Bühnen der Öffentlichkeit daneben benommen haben, oder wegen unbedachter Äußerungen unangenehm aufgefallen sind. Falls es sich dabei um noch Lebende handelt, können sie ihre Haut gelegentlich retten indem reumütig Abbitte geleistet wird. Andere werden nach einigem hin und her als unzumutbar empfunden und entfernt.
Leute die früher am Pranger standen, Schmähungen und Tätlichkeiten über sich ergehen lassen mussten, war die Rückkehr ins bürgerliche Leben versperrt. Die Schande der Bloßstellung hielt lebenslänglich an. Und so wie damals Angeprangerten, ist auch heute inakzeptabel gewordenen Popstars, Schauspielern, Autoren, Journalisten, Künstlern und Politikern die Rückkehr ins normale Leben versagt. Menschenstürmerisch Hinweggefegte sind gezwungen ein Leben als lebende Tote zu leben: als Zombies. Davon wimmelt es. Man sieht sie nur nicht. Man soll sie auch nicht sehen und auch nichts von ihnen hören.
Was aber hat das alles mit dem Begriff “cancel culture” zu tun? Das Wort “to cancel” bedeuted normalerweise absagen oder absetzen. Es ist heute mit einer sozialen Bewegung verbunden, die hauptsächlich in Amerika von sich reden macht. Und auch in anderen Ländern zunehmend an Bedeutung gewinnt. Indem missliebige Personen, Gruppen, Produkte, Firmen, Institutionen oder Ideen nicht nur mit Aufmerksamkeitsentzug bestraft, sondern regelrecht angeprangert werden. Womit Vorgänge ins Blickfeld geraten, die, wie eben schon angedeutet, mit einer etablierten Empörungskultur eng verwandt sind. Mit diesem Begriff jedoch nur unzureichend besprochen werden können. Zumal sich die mittlerweile etwas angestaubte Empörungskultur zu einer rundum erneuerten, radikalen Entwicklungsstufe aufgeschwungen hat. Empörte begnügen sich heute nicht mehr damit ihre Empörung in Worte zu fassen. Empörte, Entrüstete, Betroffene usw. sind heute vielmehr in einer vernetzten, effizient vorgehenden Gesinnungsgemeinschaft vereint.
Tatsächlich wird bei sachlicher Betrachtung kaum in Abrede gestellt werden können, dass Linksliberalismus, Feminismus, politische Korrektheit, Gutmenschentum, Antifa und Klima-Aktivismus in moralischer Hinsicht zum tonangebenden Meinungshimmel verschmolzen sind. Zudem ist offenkundig, dass in den jeweiligen Blickwinkeln dieser Horizontverschmelzung mit niemals nachlassender Aufmerksamkeit kontrolliert wird, was akzeptabel und nicht akzeptabel ist. Abweichungen von der Norm werden sofort erkannt und geahndet. Man wird daher im Hinblick auf Cancel Culture und ihren internationalen Ablegern durchaus vom Auftritt einer modernen Sittenpolizei sprechen dürfen. Deren Vorgehensweisen längst schon Charakterzüge einer moralisierenden Überwachungskultur angenommen haben. Wer damit keine Probleme hat, braucht keine Angst vor dem Gespenst des Überwachungsstaats zu haben.
Sitte, politisch korrekte Sitten, Sittenpolizei und Gesinnungsdikatur
Sitte ist, was sich gehört. Womit Sitte unüberhörbar als anderes Wort für Gehorsam erscheint. Sittenwidrigkeit ist das Gegenteil davon. Was sich gehört ist ein durch soziale Regeln, kulturelle Normen oder moralische Werte vorgeschriebenes Verhalten. Das für Einzelne als verbindlich aufgefasst wird. Früher war Sitte auf Traditionen und damit verbundenen Gewohnheiten errichtet. Etwa, indem bedingslos dem Wort des Vaters gefolgt und Vaterlandsliebe praktiziert wurde, Jüngere ruckartig vom Stuhl aufzustehen hatten wenn Ältere das Zimmer betraten, oder Kinder klaglos den Teller leeressen mussten. Sitten verändern sich ständig und neue Sitten entstehen. Die Forderung nach Gehorsamkeit aber bleibt. Wird beispielsweise mit erhobenem Zeigefinger bei Rednern auf mangelnde politische Korrektheit hingewiesen, wird die Einhaltung neuer sprachlicher Sitten verlangt. Um nicht das unsägliche Gendern zu erwähnen.
Man kann sich mühelos darauf verständigen diskriminierende und diffamierende Ausdrücke zu unterlassen. Fragt sich nur wer verbindlich festlegt, was als diffamierend oder diskriminierend aufzufassen ist. Agatha Christies Krimititel “Zehn kleine Negerlein” ist verschwunden. Pippi Langstrumpf darf in neuen Ausgaben keine “Negerprinzessin” und ihr Vater kein “Negerkönig” mehr sein. Er ist nunmehr ein Südseekönig. Krüppel sind heute Behinderte oder Menschen mit speziellen Bedürfnissen. Man verkennt auch die moralischen Gebote der Zeit, wenn weiterhin wie früher von Gott gesprochen wird, statt die gendergerechte Bezeichnung “das Gott” zu verwenden. Natürlich könnte man diese sprachlichen Korrekturwahn-Orgien als lächerliche Zeitverschwendung abtun. Die Sache hat aber eine sehr ernste und dazu furchterregende Seite.
Grundsätzlich lähmen Sprachvorgaben und Zensur das intellektuelle Diskussionsniveau. Mehr noch: Vorauseilender Gehorsam hinsichtlich sittenpolizeilicher Vorgaben in sprachlicher, sozialer oder kultureller Hinsicht führt zu Feigheit, Angst und Arschkriecherei. Das heißt, dass vor lauter Angst etwas zu sagen was nicht ins linksliberale, feministische, klima-aktivistische, vegane, kinderfreundliche, politisch korrekte Gutmenschentum passt, grundsätzlich nur das gesagt wird was in vorherrschende geistige Landschaften passt. Sich krampfhaft daran anzupassen führt nicht nur zum Verlust der Meinungsvielfalt.
Es führt zu einer gesellschaftspolitischen Situation, in der schreiendes Schweigen zum einzig guten Ton hochstilisiert wird. Individuelle Aussagen beschränken sich dann einzig und allein darauf, Mitgliedschaft in einer selbstgefälligen Gesinnungs- bzw. Attitüdendiktatur zu bekunden. Indem mit immergleich leeren Phrasen nur noch Wut, Empörung, Entrüstung und Betroffenheit zum Ausdruck gebracht wird. Und sonst gar nichts! Wobei daran zu erinnern wäre, dass dabei viel was in engerer Bedeutung mit Sitte und Kultur in Verbindung steht auf den Hund gekommen ist: Tischsitten, Manieren, Lesen, Denken, Stil, Geschmack und restlos alles was auch nur annäherungsweise mit Bildung zu tun hat.
Wer da nicht mitmacht, macht sich verdächtig. Eine eigene Meinung zu äußern ist verwerflich. Die neue Sittenpolizei mag das nicht. Sie schreitet gegen alles ein was nicht ins vorherrschende geistige Klima passt. Wobei es sich weniger um ein Klima, viel mehr aber um eine geistige Klimakatastrophe der besonderen Art handelt. Nicht nur, dass Dinge wie Tischsitten, Manieren, Lesen, Denken, Stil, Geschmack und restlos alles was auch nur annäherungsweise mit Bildung zu tun hat auf den Kulturhund gekommen ist. Der jetzt in einem zweigeteilten Totenland bellt. Auf der einen Seite schreien Rechtsextremisten. Auf der einen Seite wird im menschenstürmerisch reiner Tisch gemacht. Dass ideologisch in Ungnade Gefallene um ihr Leben fürchten müssen, ist beim gegenwärtigen Stand der Dinge unwahrscheinlich. Aber die Zeiten ändern sich bekanntlich schnell. Alles ist möglich! Geschichte hat die denkwürdige Angelegenheit sich zu wiederholen. Wo heute noch Menschen sittenpolizeilichen Maßnahmen ausgesetzt sind, kann ihnen schon morgen in annulierenden Absicht der Kopf vor die Füße gelegt werden.